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Die Geschichte der Nadler Reifenbergs ist erst Ende 2022 aufgrund der Forschungen zum Nadlerhaus "neu entdeckt" worden. Wer sich also die Frage stellt, warum das alles erst nun bekannt wird: Die Ursprünge und die Geschichte der Nadler ist in Reifenberg schlicht und einfach in Vergessenheit geraten.

Wie die Nadler nach Reifenberg kamen

kupferstich nadlerIm Jahr 1695 wurde das etwa hundert Jahre zuvor wüst gewordene Seelenberg von 10 Familien neu besiedelt. Darunter war auch Georg Ungeheuer, der aus einer Ehlhaltener Schultheißen-Familie stammte. Sein Sohn Johann heiratete 1709 eine Niederreifenbergerin und zog ins "Tal". Deren Sohn, Johann Philipp, lernte und übte den Beruf des Nadlers (auf lateinisch acicularius) aus. Er und alle nachfolgenden Generationen der Ungeheuers verbrachten ihre Lehrzeit in Durlach bei Karlsruhe. Einige wurden sogar in Durlach geboren, kehrten aber fast immer nach Reifenberg zurück. Dort verbreiteten sie das Handwerk ab etwa 1750.

Um 1800 gab es in Reifenberg vier Familien, die überwiegend das Nadlerhandwerk betrieben: Ungeheuer, Sturm, Brendel und Wagner.

Als 1830 schließlich Johann Ungeheuer, der Enkel Johann Philipps, in Reifenberg den Drahtwarenhandel sowie auch neue Drahtsorten einführte, verbreitete sich das damals überwiegend in Heimarbeit betriebene Gewerbe rasend schnell. Zwei Jahrzehnte später wurde in sehr vielen Haushalten "genadelt", oft in kleinen Nadlerhäusern, wie durch Forscher, z.B. im Jahr 1885 durch Gottlieb Schnapper-Arndt oder 1914 durch Meta Kraus-Fessel, über die Reifenberger Nadler geschrieben wird.

Was wurde hergestellt und wer hat es hergestellt?

Anton Beuth RückseiteAnfangs wurden nur sogenannte "Nadelstifte" hergestellt: Stecknadeln. Später lieferten die Reifenberger viele hunderttausend Nadelstifte, Haarnadeln, Strumpf­weber­nadeln oder auch Haken und Ösen (damals noch "Schlinken und "Zapfen" genannt) ins ganze Hessenland, aber auch ins Ausland. Gegen 1855 wurden durch Johann Anton Ungeheuer auch Sicherheits­nadeln in Reifenberg fabriziert. In dieser Zeit entwickelten sich aber auch Drahtwarenfabriken, aus denen sich später sowohl die Perlenkranzindustrie, aber auch Eisenwarenfabriken herausbildeten.

Zu den Drahtwarenfabriken gehörten in Niederreifenberg bis etwa 2004/2005 die Firmen "Theodor Usinger" und "Heinrich Riegel". Aber auch die teilweise heute noch existierenden Eisenwaren-Firmen "Ungeheuer" oder die "Firma Berbott" entwickelten sich aus der Drahtwarenherstellung. In Oberreifenberg entstanden die "Firma Johann Schmidt" (erst in der Vorstadt, dann im Bassenheimer Renthof), die "Firma Anton Beuth" (erst in Ober- später dann Niederreifenberg, unweit der Grundschule an der ehemaligen BFO). Die Drahtwaren-Firma Hugo Grambusch entstand etwa 1904. Auch die beiden Perlenkranzfabriken von Wilhelm Beuth und dessen Söhnen sind klar dem Drahtwarenwesen zuzuordnen. Neben diesen Fabriken gab es in Reifenberg aber auch viele kleinere Zulieferer-Betriebe und mehrere hundert Heimarbeiter. Allein die "Firma Theodor Usinger" beschäftigte bereits während der 1970er Jahre etwa 250 Heimarbeiter in Reifenberg und im Umland.

Wer baute das letzte, noch erhaltene Nadlerhaus Hessens?

01 Ahnentafel Philipp MühlbachReinhard Wagner, einer dieser Nadler, wurde 1809 als uneheliches Kind seiner Mutter Eva Margarethe geboren. Sie starb leider bei seiner Geburt und so wuchs er bei seinem Patenonkel Reinhard, Eva Margarethes Bruder, in der Oberreifenberger Vorstadt auf. Dort gehörten fast alle Häuser nur Nadlerfamilien. Im Hause Wagner lernte er wie seine drei Cousins Paul, Anton und Josef, das Nadlerhandwerk von seinem Patenonkel. 

Er heiratete 1831 Katharina Brendel, ein Mädchen aus der Nadlerfamilie Brendel. 1841 erbaute er in der Mitte Niederreifenbergs, Haupstraße 4, ein kleines Nadlerhaus. Sein Cousin Josef war ebenfalls nach Niederreifenberg gezogen und wohnte nur einige Meter entfernt in einem anderen Haus, einer ehemaligen Mühle, in der die Nadeln geschliffen wurden. Das Haus hatte ungewöhnlicherweise die gleiche Größe wie das Haus seines Patenonkels in der Oberreifenberger Vorstadt. In diesem Häuschen betrieb er jahrelang sein Handwerk. Sein Schwager, Hubert Mühlbach, der Katharina Brendels Schwester geheiratet hatte, half ihm vermutlich dabei. Nachdem Reinhards erste Frau früh verstarb, heiratete er 1850 Anna Maria Schott.

Deren gemeinsame Tochter Christina heiratete 1876 Hubert Mühlbachs Sohn Clemens; mit ihm ging das Nadlerhaus zur Familie Mühlbach über. Dessen Namen trägt es heute noch. Clemens Mühlbach war zunächst ebenfalls Nadler, genau wie sein Vater und sein Bruder Philipp. Später machte er aus dem Nadlerhaus allerdings ein Spezereien- und Schuhgeschäft. Vermutlich in den 1930er Jahren wandelte es sich erneut, diesmal in einen Friseurladen, der noch in den 1970er Jahren betrieben wurde.

Warum steht das Haus unter Denkmalschutz?

1900 xx xx SE AK Muehlb klDas Haus war bereits 1991 auf einer Denkmalliste des Landesamts für Denkmalpflege Hessen erfasst. Die Beschreibung des Hauses lautet in der Denkmaltopographie des Landesamts wie folgt:

"Um 1800 über Ausgleichsockel (giebelseitig erschlossener Hochkeller) in Traufenstellung errichtetes Doppelwohnhaus von einem Geschoss und mit Gaupen besetztem, zu Wohnzwecken ausgebautem Satteldach. Unter dem Putz bzw. Verkleidung dürfte ein einfachstes Fachwerkgefüge vorhanden sein. Für Niederreifenberg charakteristisches Häuschen von im Eisen verarbeitenden Gewerbe tätigen Arbeitern. Bis vor wenigen Jahren in nächster Nachbarschaft erhalten waren drei weitere, dieser Epoche angehörende Exemplare (Hauptstraße 6, 9, 15)."

Daran ist abzulesen, dass seitdem bereits drei weitere, denkmalgeschützte Häuser dieser Art ein Opfer des Abrisses geworden sind. Damals war aber nicht einmal bekannt, dass es sich um ein seltenes Nadlerhaus handelte. Diese Information erhielt das Amt erstmals durch uns. Die Antwort auf die Frage, ob weitere Häuser der Art in Hessen bekannt seien, lautete:

"Uns sind derzeit in Hessen keine weiteren Beispiele bekannt, daher stimmen wir Ihnen zu, sollte es sich tatsächlich um ein sog. Nadlerhaus handeln, es zweifelsohne ein seltenes Beispiel ist."

Der Geschichtsverein Reifenberg hat dem Landesarchiv unmittelbar danach umfangreiche Unterlagen und Quellennennungen vorgelegt, die zweifelsfrei belegen, dass es sich um ein Nadlerhaus handelt.

Warum ist das Haus so verfallen und warum sollte es gerettet werden?

07 Kleine Presse 1889 TitelblattLeider ist das Haus nun bereits seit zwei Jahrzehnten vollkommen verlassen. Die Eltern starben verarmt, die Kinder konnten sich nicht mehr um das Haus kümmern.

Die Geschichte um die Nadler war in Reifenberg komplett vergessen. Erst als man sich um seine Rettung bemühte und deshalb die Geschichte des Hauses und der Familie erforschte, wurde klar, dass das Nadler- und Drahtwarengewerbe im 19. und 20. Jahrhundert fast die Hälfte der hiesigen Bürger ernährte.

Dieses kleine, verlassene Haus ist das letzte einer fast 250-jährigen Industriegeschichte Reifenbergs und genau deshalb versuchen nun einige Bürger und Denkmalschützer dieses Kleinod zu retten und wieder herzustellen. Es ist kein vergleichbares Haus in ganz Hessen bekannt. Damit ist es quasi so etwas wie das "Letzte Einhorn" der Nadler.

Gehörte meine Familie auch zu den Nadlern?

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Da es auch im 20. Jahrhundert sehr, sehr viele Drahtarbeiter gab, beschränkte sich die Forschung nur das 19. Jahrhundert. Es existiert davon auch bereits eine Liste mit allen bekannten Nadlern, die laufend ergänzt wird. Ob Deine Familie früher ebenfalls zu den Nadlern oder Drahtarbeitern gehörte, siehst Du dort, aber auch direkt in unserer "Word-Cloud" mit den Nachnamen der Nadler-Familien. Die Größe der Namen zeigt an, wieviele Nadler es in der Familie gab.

Wie kann ich beim Erhalt des Hauses unterstützen?

Die Erhaltung des Hauses wird eine Menge Geld kosten und das wird nur zu leisten sein, wenn auch viele dabei helfen und unterstützen. Je mehr, desto besser. Denn die Gemeinde kann das alleine nicht schaffen. Deshalb wurde dieses Hilfe-Ersuchen gestartet, um das Haus zu erhalten. Was ihr derzeit tun könnt:

  • Das denkmalgeschützte "Nadlerhaus Wagner-Mühlbach" in Niederreifenberg hat eine eigene Facebook-Seite mit Bildern und Informationen, die auch einen kurzen Einblick in das 250-jährige Nadler- und Drahtwarenwesen Reifenbergs geben. Die Seite ist als "Lobby" für das kleine Nadlerhaus gedacht, um es vor dem Abriss zu retten. Aus diesem Grund wird dazu eingeladen, dem Haus eine "Stimme" zu geben, beispielsweise, indem die Seite durch ein "Like" unterstützt, sie geteilt oder ihr gefolgt wird, wenn Neuigkeiten darüber erwünscht sind. Konstruktive Kommentare und Ideen sowie Unterstützungs-Bekundungen sind natürlich herzlich willkommen.

  • Genauso wichtig ist es, die Geschichte des Hauses und der Nadler zu verbreiten. Denn sehr viele Bürger der Gemeinde Schmitten haben offensichtlich immer noch nichts von der interessanten Hintergrund-Geschichte und den Nadlern durch die Erforschung des Hauses  erfahren. Es wird um Verbreitung in den sozialen Medien (siehe Facebook-Seite oben) gebeten bzw. den Verweis auf die Webseite des Geschichtsvereins gebeten.

  • Ihr könnt aber auch helfen, indem Ihr uns mitteilt, dass ihr auch für die Erhaltung des Hauses einsetzen möchtet. Schreibt uns hierzu einfach eine eMail an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. oder besucht uns donnerstags ab 18 Uhr in Oberreifenberg im Pfarrhaus Schulstraße 1, wo wir Euch noch viel mehr über die Geschichte erzählen können. Dort könnt Ihr auch eine kleine Ausstellung zu den Nadlern und ihrer Geschichte anschauen.

Um Unterstützung bitten wir vor allem die Familien, deren Nachname oben auf der Liste stehen, denn: Ihr seid auch eine Nadlerfamilie!